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Lernst Du noch oder verstehst Du schon?

Hirnforscher Dr. Henning Beck weiss, worauf es bei der Persönlichkeitsentwicklung wirklich ankommt.
Veröffentlicht am 09.06.2022
Bild: Daniel Berkmann - stock.adobe.com

Schon der gute alte Seneca wusste Bescheid. „Non vitae, sed scholae discimus“, schrieb er, was so viel bedeutet wie „Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir“. Und genau so meinte der römische Schriftsteller und Philosoph das auch: Die Erziehung in der Schule sei kaum dazu geeignet, junge Menschen auf das Leben vorzubereiten. 2000 Jahre nach Seneca hat sich in dieser Hinsicht zwar schon einiges getan, doch in Sachen „Lernen“ ist immer noch Luft nach oben, findet auch Dr. Henning Beck. Der 38-Jährige ist Neurowissenschaftler und Biochemiker und geht hauptberuflich der Frage nach, wie menschliches Lernen funktioniert – und wie nicht.

ALLE LERNEN, NUR MENSCHEN VERSTEHEN

Noch nie war Lernen so wichtig wie heute. Dabei ist es gar nichts so Besonderes: Auch Tiere und Computer lernen. Doch wo für Fauna und Künstliche Intelligenz Schluss ist, kann der Mensch einen Schritt weitergehen – und verstehen. „Während man sich überall darauf konzentriert, wie man das Lernen verbessert und digitalisiert, wird die Welt tatsächlich von den Menschen gestaltet, die nicht nur gelernt, sondern auch verstanden haben“, sagt Henning Beck. Damit, was im menschlichen Gehirn passieren muss, damit sein Besitzer versteht, beschäftigt er sich am Frankfurter Scene Grammar Lab.

ZWISCHEN LERNEN UND VERSTEHEN GIBT ES EINEN UNTERSCHIED

Wo genau verläuft eigentlich die Grenze zwischen Lernen und Verstehen? Was kann das Letztere, was das Erstere nicht kann? „Das Besondere am Lernen ist, dass sich dabei das Gehirn so anpasst, dass es einen Reiz beim nächsten Mal besser verarbeiten kann. Das Nervennetz passt sich zum Beispiel an Vokabeln an, so dass wir beim nächsten Mal schon besser wissen, was sie bedeuten“, nennt er ein anschauliches Beispiel. Bei Verstehen hingegen gehe es um mehr. „Verstehen ist mehr als ein Abspeichern. Wer versteht, der durchdringt einen Sachverhalt. Anhand von wenigen Beispielen versteht man etwas und erkennt Ursache und Wirkung“, sagt der Neurowissenschaftler. Und damit kommen Menschen wesentlich weiter als mit bloßem Lernen: Sie bauen sich anhand des Verstandenen ein Schema auf, das sie auch auf neue, bislang unbekannte Probleme anwenden können. „Das ist viel spannender als Lernen“, fasst Beck zusammen.

ENT-VERSTEHEN IST NICHT MÖGLICH

Ein weiterer Pluspunkt für das Verstehen erkennt er in dessen Irreversibilität: Wer einmal verstanden hat, kann nicht ent-verstehen, wohingegen es sehr wohl möglich ist, etwas Gelerntes wieder zu ver-lernen beziehungsweise zu vergessen. „Natürlich kann man alle Jahreszahlen zum preußisch österreichischen Krieg auswendig lernen. Aber das ist uninteressant. Viel spannender ist doch, das Prinzip der Kriegssituation zu verstehen und wie es dazu kommen konnte, weil man das dann auch auf andere Situationen anwenden kann“, geht er ins Detail. Beck hat sich auch Gedanken dazu gemacht, wie sich seine Erkenntnisse im heutigen Bildungssystem – 2000 Jahre nach Seneca – einsetzen lassen, damit die Schüler und Studenten tatsächlich fürs Leben lernen beziehungsweise verstehen und nicht fürs Kurzzeitgedächtnis. Er erinnert sich noch gut an seine eigene Schulzeit: „Die besten Lehrer, die ich hatte, haben nicht die besten Antworten gegeben, sondern die besten Fragen gestellt“, hat er festgestellt. Für die Schüler sei dieser quälende Moment der Unwissenheit zwar schwer auszuhalten, doch er sei wichtig: „Wenn sie die Antworten nicht sofort angeboten bekommen, müssen sie die Dinge selbst durchdenken. Das hilft beim Verstehen.“

INEFFIZIENT WIE EIN WEIHNACHTSGESCHENK

Gute Wissensvermittlung ist ineffizient wie ein Weihnachtsgeschenk, sagt Henning Beck: „Wir lieben es, wenn es eingepackt ist. Wir lieben ein Rätsel, ein Geheimnis, ein Fragezeichen. Dieses Prinzip der Verführung, bei dem Informationen zurückgehalten werden, ist das erfolgreichste Prinzip der Welt.“ Vor diesem Hintergrund sei es mehr als verwunderlich, dass ausgerechnet in der Bildung alles klar und eindeutig sein soll. Wer Wissen vermittelt wie ein unverpacktes Weihnachtsgeschenk, der erzieht Menschen zu Informationskonsumenten, nicht zu selbst denkenden Menschen. Auch das gemeinsame Erleben von Lehrendem und Verstehenden sei nützlich: „Gemeinsam auf Entdeckungsreise gehen ist eine gute Form von Unterricht. Deshalb sagen erfolgreiche Führungskräfte ihren Angestellten nicht ‚Go!‘, sondern ‚Let’s Go!‘.“ Er ist zu Gast in Lehrerzimmern und bei pädagogischen Tagungen, spricht bei Preisverleihungen und auf Lehrerfortbildungen und trägt so sein Wissen genau dorthin, wo Lehrende es sofort umsetzen können. „Jeder Bildungserfolg steht und fällt mit den Lehrern. Und ich habe schon viele großartige Leute getroffen, die das permanent umsetzen. Deshalb bin ich auch überhaupt kein Apokalyptiker, dazu haben wir zu viele gute Lehrer. Wir brauchen uns mit unserem Bildungssystem nicht zu verstecken“, ist er überzeugt.

WAS YOUNG PROFESSIONALS VERSTEHEN MÜSSEN

Nicht nur Lehrer und Schüler oder Studenten können von Henning Becks Wissen profitieren. Auch Young Professionals tun gut daran, sich seine Erkenntnisse immer wieder vor Augen zu führen. Auf dem Weg zum beruflichen Erfolg hat er mehrere Charakterzüge und Verhaltensweisen festgestellt, die viele Top-Manager gemeinsam haben: „Was meiner Erfahrung nach besonders clevere Typen auszeichnet, ist, dass sie viele Bücher lesen – und zwar gedruckte. Außerdem habe ich noch keinen erfolgreichen Menschen kennengelernt, der kein Hobby hat. Das kann alles Mögliche sein, Hauptsache, es bietet die Möglichkeit einer Auszeit, in der sie die Informationen des Alltags verdauen können. Dabei kommen häufig die besten Ideen raus.“ Außerdem kommt Beck an dieser Stelle wieder auf die Fragen zu sprechen, die zu stellen so wichtig ist. „Das konzeptionelle Denken und das durchdringende Verstehen passieren meistens dann, wenn man Leute fragt, die sich nicht auskennen. Wenn man naive Fragen zulässt, eine andere Perspektive einnimmt und mit Offenheit an die Sache rangeht.“ Und noch einen Tipp hat er für alle Smartphone-affinen, Podcast-hörenden und Netflix-schauenden Young Professionals: „Es ist absolut sinnvoll, zwischen den einzelnen Medien zu wechseln. Aber um gute Ideen zu entwickeln, ist das Buch eine hervorragende und leider sehr unterschätzte Technik.“

HENNING BECK

Henning Beck ist Jahrgang 1983 und hat Biochemie in Tübingen studiert. Anschließend wurde er an der dortigen Graduate School of Cellular & Molecular Neuroscience promoviert. Er arbeitete an der University of California in Berkeley, publiziert regelmäßig in der WirtschaftsWoche und für das GEO-Magazin, hält Vorträge zu Themen wie Hirnforschung und Kreativität und ist Autor der Bücher „Hirnrissig“ (2014), „Irren ist nützlich“ (2017) und „Das neue Lernen heißt Verstehen“ (2020). Beck lebt in Frankfurt am Main und arbeitet am dortigen Scene Grammar Lab zum Thema menschliches Lernen.

VON HEIKE THISSEN