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Bildung anders denken

Der gesellschaftliche Stellenwert beruflicher und akademischer Bildung.
Veröffentlicht am 07.06.2016

Der gesellschaftliche Stellenwert beruflicher und akademischer Bildung.

Die duale Ausbildung sei ein Erfolgsmodell, sagen die einen. Der Wirtschaftsstandort Deutschland bringe im internationalen Vergleich zu wenige Akademiker hervor, warnen andere.

Das Bundesinstitut für Berufliche Bildung erwartet bis zum Jahr 2030 einen Verlust von 4,9 Millionen Erwerbspersonen im nicht-akademischen Bereich. Die veränderte Lage bekommen Ausbildungsbetriebe aller Branchen längst zu spüren. „Es ist schwieriger geworden, geeignete junge Menschen für die duale Ausbildung zu gewinnen“, stellt Harald Herrmann, Präsident der Handwerkskammer Reutlingen, fest. Er weist auf die vielfältigen Weiterbildungswege im Handwerk hin. Und stellt provokativ die These auf, dass der Meisterbrief möglicherweise die bessere Vorbereitung auf die Selbstständigkeit sei als ein Medizinstudium für einen Arzt.

Bei einer von der Handwerkskammer Reutlingen organisierten Veranstaltung kamen kürzlich mit dem Philosophen und Kulturstaatsminister a. D. Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin und Prof. Dr. Andreas Schleicher, Bildungsdirektor der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), zwei Bildungsexperten mit ihren Analysen zu Wort.

Zukunft nur mit Studium? Die Abstimmung über diese Frage ist in vollem Gange: Im Jahr 2013 haben in Deutschland erstmals mehr junge Menschen ein Studium begonnen als eine Lehre. Während in Hörsälen und Seminarräumen drangvolle Enge herrscht, bleiben immer häufiger Ausbildungsplätze unbesetzt. Nida-Rümelin führt diese Entwicklung auf die seit Jahrzehnten vorherrschende Bildungsideologie zurück, die allein akademische Abschlüsse mit Lebenschancen und Aufstieg gleichsetze und damit die gewerbliche Ausbildung systematisch entwerte.

„Akademisierungswahn“ lautet der Befund, den Nida-Rümelin im vergangenen Herbst in Buchform vorgelegt hat. Ein auf die Zahl der Studienabschlüsse ausgerichtetes Verständnis von Bildung gefährde einzelne Branchen und beschädige, indem immer mehr berufliche Bildung an Hochschulen verlagert werde, zugleich die Qualität der akademischen Ausbildung. Nida-Rümelin fordert ein Umdenken. Aufgabe von Bildung sei es nicht, ein „Oben und Unten zu schaffen“, sondern unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten Wege zu eröffnen. „Man kann in Deutschland zur Mittelschicht gehören, ohne studiert zu haben.“

Kritisch setzte Nida-Rümelin sich mit den international angelegten Studien der OECD und den zugrunde gelegten Bewertungskriterien auseinander. „Wenn die Tochter eines Germanisten Goldschmiedin lernt und nach bestandener Meisterprüfung einen Betrieb übernimmt, definiert das die OECD als Bildungsabstieg.“ Großbritannien gelte mit einer Akademikerquote von 30 Prozent als „Bildungsgroßmacht“, verzeichne aber mit 20 Prozent eine mehr als doppelt so hohe Jugendarbeitslosigkeit als Deutschland (neun Prozent) und Österreich (acht Prozent). Ohnehin seien die Vergleichsstudien wegen der spezifisch deutschen Bedingungen – mittelständisch geprägte Wirtschaft, starkes verarbeitendes Gewerbe mit einer doppelt so hohen Wertschöpfung wie im EU-Durchschnitt – aus methodischen Gründen problematisch. Vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Fachkräftemangels sei die OECDIdeologie „vor die Wand gefahren“, stellte Nida-Rümelin fest. „Es ist wichtig, dass falsche Botschaften nicht weiter verbreitet werden.“

Schleicher, der per Videokonferenz aus Paris zugeschaltet war, wies diese Interpretation scharf zurück. Die OECD fordere nicht mehr Akademiker in Deutschland, sondern höhere Investitionen in höherwertige Qualifikationen. Auch werde niemand als Bildungsabsteiger bezeichnet. „Wir unterscheiden nicht zwischen Bachelor und Meister.“ Allerdings steige mit der Qualifikation nach wie vor die Aussicht auf ein höheres Einkommen und bessere Entwicklungsmöglichkeiten. „Die Schere geht auseinander“, sagte Schleicher mit Blick auf Beschäftigte mit Facharbeiter- oder Gesellenb rief.

Nida-Rümelin hatte zuvor die Lebensarbeitszeiteinkommen von Universitäts-, Fachhochschulabsolventen und Meistern sowie Technikern verglichen, die vergleichsweise geringe Unterschiede aufwiesen.

Welches Bildungssystem brauchen wir? Trotz des Streits um Methodik, Zahlen und Deutungen kamen die Experten zu ganz ähnlichen Antworten. Schleicher, der als Leiter der „Pisa-Studien“ bekannt wurde, sprach sich dafür aus, mehr jungen Menschen, ob als Azubi oder Studierender, eine bessere Erstqualifizierung zu bieten. Der Übergang zwischen dualer Ausbildung und Hochschule müsse erleichtert werden, beispielsweise durch die Anrechenbarkeit von Ausbildungszeiten.

Sein Plädoyer für ein „offenes, integratives Bildungssystem“ deckte sich mit Nida-Rümelins Empfehlung, mehr Respekt für unterschiedliche Begabungen zu entwickeln und diese Vielfalt bereits an den allgemeinbildenden Schulen zu fördern. Die duale Ausbildung müsse aufgewertet und bei Jugendlichen verstärkt beworben werden. Das Anforderungsniveau an Hochschulen dürfe nicht weiter sinken.