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Vom lähmenden Gefühl, ein Hochstapler zu sein

Was ist eigentlich das Impostor- oder Hochstapler-Syndrom und wie äußerst sich dies - Aufschluss darüber gibt uns die Psychologische Psychotherapeutin Tanja Grathwol im Interview.
Veröffentlicht am 30.04.2022
Tanja Grathwol ist Psychologische Psychotherapeutin in St. Georgen und Coachin mit Schwerpunkt Impostor-Syndrom. Sie hilft Menschen dabei, das Gefühl zu überwinden, ein Hochstapler zu sein. | BILD: Tanja Grathwol / Alexander - stock.adobe.com

Frau Grathwol, was versteht man eigentlich unter dem Impostor- oder Hochstapler-Syndrom?

Vom Hochstapler-Syndrom spricht man, wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie anderen etwas vorspielen und gar nicht so gut sind, wie diese denken oder dass sie nicht die Kompetenzen haben, von denen die anderen denken, sie hätten sie. Damit leben Menschen mit Impostor-Syndrom permanent in der Angst, dass sie auffliegen könnten – vor den Kollegen, vor dem Chef oder vor wem auch immer. „Wenn du wüsstest …“, ist ein typischer Gedanke. Deswegen fühlen sie selbst sich als Hochstapler, die etwas vorgeben, was sie nicht sind.

Wie kommt es dazu?

Beim Impostor-Syndrom geht der aktuelle Stand der Wissenschaft davon aus, dass die Wurzeln in der Erziehung des Betroffenen liegen. Zum einen fand man, dass ihm oft schon als Kind vermittelt wurde, dass er – bezogen auf seine Leistungen – nicht gut genug ist. Das führt dann häufig dazu, dass diese Person sich zwar einerseits beweisen möchte, andererseits aber die Aussagen der Bezugspersonen stark verinnerlicht hat und deshalb sich selbst nicht traut. Zum anderen haben Studien belegt, dass es auch Personen betrifft, die in ihrem Wert immer über ihre herausragenden Fähigkeiten definiert wurden. So jemand bekommt dann zum Beispiel gesagt, dass er schon als Kind ein Genie war, oder dass es nichts gibt, was er nicht kann oder ähnliches. Wenn diese Person dann die Erfahrung macht, dass sie sich sehr anstrengen muss, um irgendetwas zu erreichen oder dass sie für gute Ergebnisse lernen muss, stellt sich die Überzeugung ein, dass sie im Grunde dumm sein muss und ihre Bezugspersonen nur getäuscht hat.

Gibt es Menschen, die anfälliger sind für das Impostor-Syndrom als andere?

Tatsächlich scheinen gerade Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern, die dann Karriere machen, häufiger vom Hochstapler-Syndrom betroffen zu sein, da sie das Gefühl haben, nicht an der richtigen Stelle zu sein. Außerdem fand Joel Lane von der University of Portland 2015 heraus, dass sich vor allem junge Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren, die kurz vor dem Einstieg ins Berufsleben stehen, oft wie Hochstapler fühlen. In dieser Phase endet die Adoleszenz, sie müssen Erwachsenenrollen einüben und Verantwortung übernehmen. Hinzu kommen eine unbekannte Umgebung, hohe Erwartungen, ein neuer Job und erfahrene Kollegen. Veränderungen wie diese können verunsichern und das Selbstwertgefühl erschüttern. Auch Frauen, die in Führungspositionen arbeiten, scheinen vermehrt unter dem Gefühl zu leiden, nicht gut genug zu sein – unter anderem, weil sie oft in einem Rollenkonflikt stecken. Sie wollen die perfekte Mutter, Partnerin, Chefin und vieles andere mehr gleichzeitig sein.

Wie genau äußert sich das Syndrom dann?

Im Grunde lassen sich die Betroffenen in unterschiedliche Typen einteilen: Da gibt es zum einen die Workaholics, die versuchen, mit perfekter Vorbereitung und Fleiß zu vermeiden, dass sie „auffliegen“ könnten. Die Charmanten hingegen denken, sie hätten ihren tollen Job und so weiter nur bekommen, weil sie so nett sind. Die Chamäleons sind diejenigen, die sich so sehr an die jeweilige Situation anpassen, dass sie gar nicht mehr auffallen können, weil sie in der Menge verschwinden. Die magischen Denker dagegen gehen davon aus, dass alles, was funktioniert hat, nur mit einer bestimmten Sache außerhalb ihres Könnens zu tun hat, wie zum Beispiel ihrem tollen Parfüm oder den roten Schuhen. Die Bescheidenen sind die, die ihre Erfolge andern Menschen zuschreiben. Und die Einfühlsamen lesen anderen immer jeden Wunsch von den Augen ab.

Und wie finden die Betroffenen heraus aus dem Gefühl, ein Hochstapler zu sein?

Eine Person mit Impostor-Syndrom wird niemals jemandem anderen glauben, dass sie gut ist – ganz egal, wie oft und von wem sie es gesagt bekommt. Erst, wenn sie selbst davon überzeugt ist und die Gewissheit, gut zu sein, aus ihr selbst kommt, wird sie anfangen, sich zu entspannen. Da ist also ganz viel Arbeit mit dem Selbstbewusstsein, dem Selbstvertrauen und der Selbstliebe nötig. Diese innere Variable muss sich zuerst ändern, in vielen kleinen Schritten.

VON HEIKE THISSEN